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05.03.2015 - Forderungen für eine angemessenere Versorgung von weiblichen Flüchtlingen

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Die Zahl der Flüchtlinge, die in Hessen untergebracht und versorgt werden muss, hat durch die akuten Konflikte in vielen Teilen der Welt seit dem vorletzten Jahr stark zugenommen. Diese Situation wird sich in naher Zukunft nicht verändern.

Frauen fliehen aus allgemeinen Gründen der Gefährdung durch Kriege, Bürgerkriege und andere Notlagen oder aus geschlechtsspezifischen Gründen wie beispielsweise drohender Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung. Sie sind auf der Flucht besonderen Gefährdungen ausgesetzt, wenn sie allein oder nur mit ihren Kindern unterwegs sind. Die Begleitung durch männliche Angehörige oder Bekannte sichert nicht immer Schutz vor Gewalterleben, sondern kann auch zu besonderen Abhängigkeiten führen.

Im Folgenden benennen wir Anforderungen an das Versorgungs- und Hilfesystem bzw. eine Vielzahl von Problemen, die in Bezug auf die Situation von weiblichen Flüchtlingen gelöst werden müssen. Viele dieser Probleme sind miteinander verwoben. Sie zu bearbeiten und sie so zu lösen, dass Frauen, die zu uns geflüchtet sind, die Möglichkeiten an Hilfe angeboten werden kann, die notwendig und angemessen sind, wird längere Zeit in Anspruch nehmen. Voraussetzung ist, dass das Land Hessen den Kommunen die Mittel in voller Höhe zurückerstattet, die dafür benötigt werden. Wichtig ist, dass der Prozess einer Verbesserung der Situation jetzt beginnt und da ansetzt, wo aktuell der Bedarf am größten ist.

Die zwei dringlichsten Forderungen sind für uns:

  • Die Schaffung geschützter Räume und von Rückzugsmöglichkeiten für Frauen. Diese muss es geben, damit die Frauen beginnen können, das Erlittene zu überwinden und für sich und ggf. ihre Kinder eine Perspektive zu entwickeln, sei es für ein Leben hier oder auch bei Rückkehr in das Land, aus dem sie geflohen sind.
  • Für Frauen, die Gewalterfahrungen durchleben mussten, muss der Zugang zum Hilfesystem, sichergestellt werden. Dazu gehört, dass ausgebildete Dolmetscherinnen und Dolmetscher für das Hilfesystem kostenfrei zur Verfügung stehen, bzw. die Kostenübernahme geregelt ist.

Als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte sehen wir uns für alle Frauen zuständig, die in unseren Kommunen leben, auch und gerade für die in existentiell schwierigen Situationen, wie eine Flucht sie darstellt. Wir fordern daher alle Zuständigen in Bund, Land und Kommune auf, die besondere Situati-on von Frauen, die als Flüchtlinge zu uns kommen zu berücksichtigen und die Hilfe angemessen zu gestalten.

Im Einzelnen muss aus unserer Sicht beachtet werden: 

Ankommen in Deutschland

Es ist anzunehmen und zu beobachten, dass die Frauen eine Vielzahl von traumatisierenden Erlebnissen im Herkunftsland und auf der Flucht erlebt haben. Sie sind zum Teil knapp dem Tod entronnen. Sie haben Kinder, Ehemänner und Familien in ihren Ländern oder auf der Flucht verloren oder sind in Sorge, weil sie nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind.
Auf der Flucht mussten viele von ihnen erleben, wie andere Menschen gestorben sind und sie über-lebt haben. Sie haben große Verluste erfahren. Sie wurden Opfer von Gewalt, waren Entführungen, Folterungen, Schutzgelderpressungen und Vergewaltigung teilweise über Jahre ausgesetzt. Der Anfang dieses Leidens fand in den Heimatländern statt und setzte sich auf der Flucht fort. Sie sind zum Teil mit HIV infiziert oder leiden an anderen schwerwiegenden Erkrankungen. Auf der Flucht ist ihre Schutzlosigkeit am größten.
Das Gefühl, hier angekommen zu sein - in Sicherheit - und sich angstfrei bewegen zu können, ist für viele Frauen ein Geschenk. Die Wahrnehmung derer, die mit Flüchtlingen arbeiten ist, dass die Frau-en eine starke Fähigkeit des Überlebens haben und viele Ressourcen für ein neues Leben hier mit-bringen.

Unterkünfte

Für Frauen, die durch ihre Lebensumstände besonders belastet sind und einen überschaubaren und geschützteren Lebensraum benötigen, steht bis jetzt häufig kein entsprechendes Unterbringungsan-gebot zur Verfügung.
Die Flüchtlingsberatungsstellen berichten, dass eine große Anzahl dieser Frauen jedoch einen höheren Betreuungs- und Schutzbedarf haben, da sie entweder ganz allein sind oder durch ihre Erfahrun-gen in den Heimatländern oder auf der Flucht besonders belastet sind. Für diese Frauen soll eine besondere Form der Unterbringung, außerhalb von größeren, geschlechtsgemischten Wohnheimen geschaffen werden.
Die derzeitigen Standards für die Unterbringung richten sich nach Größe und Ausstattung der Räume und berücksichtigen keine geschlechtsspezifischen Aspekte. Diese müssen in die Mindeststandards für Unterkünfte aufgenommen werden. Es muss die Möglichkeit bestehen, dass Räume geschaffen werden, wo Frauen unter Frauen sein können.

Gesundheitsfürsorge

Die medizinische Grundversorgung muss auf die Bedürfnisse und religiösen/kulturellen Aspekte ausgerichtet sein und Gewaltproblematiken berücksichtigen. Das eingesetzte medizinische Personal sollte in diesen Bereichen geschult sein oder fortgebildet werden.
Es muss eine angemessene Versorgung von vergewaltigten Frauen und Frauen mit anderen Gewalt-erfahrungen möglich sein, z. B. ist in der Gesundheitsfürsorge für weibliche Flüchtlinge eine medizinische Spezialisierung notwendig, um mit Beeinträchtigungen durch Genitalverstümmelung umzugehen, von denen Frauen aus afrikanischen Ländern mit einer hoher Wahrscheinlichkeit betroffen sind. Seit 2005 ist die drohende Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische Verfolgung Grund einer Asylgewährung. Mädchen und junge Frauen benötigen hier Unterstützung, gegebenenfalls auch durch Gesundheitsbehörden und Jugendämter. Kinderärztinnen und -ärzte und Gynäkologinnen und Gynäkologen müssen in Bezug auf diesen Problemkomplex geschult werden.
Die Ausrüstung der medizinischen Stellen ist für Schwangere auszustatten. Schwangere Frauen müssen Zugang zu Hebammen haben und zu allen Angeboten der Frühen Hilfen.
Für die Betreuung von schwangeren Frauen sind Familienhebammen und Hebammenprojekte wie z. B. „Keiner fällt durchs Netz“ sinnvoll sowie die intensive Schulung unter dem Blickwinkel der Besonderheiten der Flüchtlingsbetreuung.
In vielen Ländern ist Therapie durch Sprache kein anerkanntes oder herkömmliches Mittel der Verar-beitung von Konflikten und wird eher als westliches Phänomen beurteilt. Wenn Therapie angeboten wird, muss das möglichst in einer Herkunftssprache geschehen. Möglicherweise können stabilisierende Therapieangebote, die festigend auf die Persönlichkeit und die neue Umgebung einwirken, einfacher umzusetzen sein. Dies sollte bei den zu machenden Angeboten bedacht werden.

Bildungs- und Freizeitangebote

Es fehlen häufig spezielle Angebote, die religiöse und kulturelle sowie sprachliche und geschlechts-spezifische Aspekte berücksichtigen, sowie ressourcenorientiert die Fähigkeiten der Frauen fördern können.

Es ist sinnvoll, Gruppenangebote für Frauen einzurichten. Diese können Vereinsamung aufbrechen oder vorbeugen, damit es nicht zu instabilen psychischen Situation kommt.

Umgang mit Kultur und Religion

Kultur und Tradition aus den Heimatländern wirken nachhaltig und beeinflussen das Verhalten und das Leben der Frauen. Fragestellungen in der Arbeit mit weiblichen Flüchtlingen müssen sein: Welche kulturellen Regeln und Verbote bringen die Frauen mit? Welche Grenzen müssen beachtet werden und wie kann man sich ihnen nähern, ohne diese zu verletzten? In der Arbeit mit den Frauen ist es schwierig diese „Barrieren“ zu überwinden. Werte und Regeln sind verinnerlicht und erschweren das Ankommen in einem neuen Land. Frauen müssen aber über ihre hier bestehenden Rechte und Möglichkeiten informiert werden, denn bei vielen Frauen besteht auch die Erwartung, an hiesigen Freiheitsrechten partizipieren zu können.

Arbeit, Ausbildung, Existenzsicherung

Aufgrund des ungesicherten Status fehlen Frauen im noch nicht anerkannten Asylverfahren häufig Möglichkeiten, Maßnahmen zu besuchen. Hier wird von Seiten der Länder oder des Bundes wenig investiert, da der Ausgang ungewiss ist und eine Förderung der Integration hinfällig erscheint, wenn die Frauen Deutschland wieder verlassen müssen.
Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen aus den Herkunftsländern ist extrem schwierig. In vielen Fällen fehlen Dokumente und Urkunden aufgrund der Flucht und der Verfolgung sowie der Tatsache, dass in vielen der Länder Krieg herrscht. Papiere und Nachweise sind unwiderruflich verloren.
Nach der Anerkennung sind Integrationskurse möglich. Sie eröffnen neue Möglichkeiten- im Vergleich zu ihrer Heimat bekommen die Frauen hier eine neue Lebensperspektive. Es muss bei ihren Qualifikationen (auch den nicht formal bestätigten) und Ressourcen angesetzt werden, um ihnen eigenständige Existenzsicherung zu ermöglichen.
Wenn das nicht ohnehin im Selbstverständnis vorhanden ist, sollten ihnen auch Erwartungen des Systems, z. B. dass sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen, vermittelt werden. Wenn der Aufenthalt gesichert ist, kann durch das SGB II eine finanzielle Unabhängigkeit vom Partner gewährleistet werden, und Frauen können sich so eventuell aus ungewollten arrangierten oder erzwungenen Ehen lösen und zu einer neuen Selbstständigkeit kommen. Solche Prozesse müssen durch Beratungsstellen begleitet werden können.

Paare, Eltern und Kinder

In den Gemeinschaftsunterkünften muss ein Standard der Unterbringung sein, Eltern und Kindern in durch Türen getrennten Räumen unterzubringen, um trotz der Enge den Paaren Rückzugsmöglichkeiten zu geben, und gleichzeitig Räume zum Spielen zu schaffen.
Beziehungsstrukturen, kulturelle und religiöse Abläufe müssen in dem neuen Land und der veränderten Lebenssituation neu gefunden werden. Regeln, die in der Heimat Bedeutung hatten, sind nun nicht mehr umsetz- und anwendbar. Das Paar muss sich neu finden. Dieser Prozess kann von Konflikten bis hin zu ersten oder weiteren Gewalterfahrungen begleitet sein. Auch gilt in vielen Ländern Gewalt gegen Frauen nicht als Strafdelikt und gehört zum „normalen“ Lebensalltag der Frauen.
Auch zwischen den Generationen können Konflikte eskalieren. Wenn es zu Gewaltproblematiken kommt, muss insbesondere der Kinderschutz sichergestellt werden.
Entsprechende Beratungs- und Hilfsangebote müssen für die Familien zugänglich sein.

Aspekte allgemeiner Rahmenbedingungen, die es zu ändern gilt:

  • Aufschlüsselung geschlechtsspezifischer Daten in den Statistiken
  • Zusammenführung bei getrennter Einreise muss möglich sein, auch über Bundesländer hin-weg. Die bisher bestehenden Regelungen sind besonders für junge Frauen problematisch, wenn sich Familienmitglieder (nicht Kinder und Ehegatten) in einem anderen Bundesland auf-halten. Eine Zusammenführung ist dann nicht möglich

AG Gewaltprävention der LAG Hessischer Frauenbüros